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Das Trauma nach Jahren des Terrors und der Gewalt

 Ein lauter Knall, gefolgt von dem dumpfen Grollen des Echos einer Explosion, welches aus dem Grunde des Talkessels emporstieg und sich an den Berghängen brach, riss die Menschen in der Nacht auf den 1. Oktober 1978 aus dem Schlaf. In Zeiten ohne weltweitem Netz, dass es erlaubt Informationen innerhalb von Sekunden um den Globus zu jagen, dauerte es bis zum nächsten Morgen, bis wir in unserem kleinen südtiroler Bergdorf Klarheit darüber hatten, was passiert war. Unbekannte hatten versucht, das sogenannte „Siegesdenkmal“ im Herzen der Hauptstadt Bozen, in die Luft zu jagen.

Für mich als Kind ein sehr beeindruckendes Erlebnis, war mir dieses Monument doch sehr vertraut, welches mit der steinernen Wucht des faschistischen Baustils, im Zentrum der Stadt thront. Ich wusste damals schon um die Geschichte, dieses Denkmal betreffend. Es waren die Annexion Südtirols durch die Siegermacht Italiens, nach Ende des Ersten Weltkriegs, gefolgt von der Unterdrückung der deutschsprachigen Bevölkerung bis aufs Blut, durch die italienischen Faschisten unter Diktator Benito Mussolini. Viele wurden vertrieben, manche gingen freiwillig, um der Zwangsitalianisierung und den Repressionen des Regimes zu entkommen. Mussolini lies das „Siegesdenkmal“ als Zeichen der Übermacht, in das Herzen Südtirols pflanzen. Eine Provokation für das über Jahrzehnte geschundene Volk.

Obwohl nach Ende das Zweiten Weltkriegs politische Lösungen Erleichterung brachten, war das Trauma der einheimische Bevölkerung groß. Nicht alle waren für den politischen Kompromiss, was zu einer Welle der Gewalt führte, die sich über Jahrzehnte hinzog. Die versuchte Sprengung des „Siegesdenkmals“ am 1. Oktober 1978 war nur einer vor vielen, aus einer ganzen Reihe von Vorfällen, die sich schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ereigneten. Das Denkmal wurde nur leicht beschädigt, zu massiv ist die Bausubstanz. Größeren Schaden hat jedoch die Stimmung im Lande davon getragen. Die Kluft zwischen den zwei Kulturen, der deutschen und der italienischen, wurde wieder weiter aufgerissen. Mich selbst hat das Erlebnis sehr verunsichert, viele Fragen blieben unbeantwortet. Ich hatte mich seit frühester Kindheit zwischen beiden Bevölkerungsgruppen bewegt und konnte absolut nicht erkennen, weshalb ein Zusammen nicht funktionieren sollte. Gleichzeitig spürte ich immer wieder den Hass, der von beiden Seiten ausging.

So war meine Kindheit und Jugend geprägt von einem Alltag, mit viel italienischer Polizeipräsenz, dem gegenseitigen Argwohn, mit dem man sich betrachtete, mit Nationalismus, Patriotismus, Fanatismus. Ein Spannungsfeld, das eine ständige innere Unruhe, wenn nicht gar Angst, mit sich brachte. Man wusste nie, was noch passieren würde, ob es einen nicht selbst treffen könnte. Da war einerseits die Gefahr des Terrors, dann wieder die Willkür der Besatzer, welche diesen bekämpften.

Die nächste Welle der Gewalt, die mich direkt betraf, begann Mitte der Achtzigerjahre. In der Ortschaft Lana kamen zwei Mitglieder der Südtiroler Schützen ums Leben, als sie im Keller ihres Hauses mit Sprengstoff hantierten. Beeindruckt, beinahe ehrfürchtig, blickte ich am Tag nach diesem Ereignis, im Vorbeifahren auf das Haus. Ruhig, ja fast malerisch lag es da, eingebettet ins Grün der Apfelplantagen. Was veranlasste solche Menschen dazu, Attentate zu planen, wo wir doch gerade ein recht friedliches Dasein fristeten? Im Laufe der kommenden Jahre kam es immer wieder zu Vorfällen, die im Zusammenhang mit dem sogenannten Freiheitskampf von Südtirolern gegen Italien standen. Explosionen, Angriffe auf Polizeistationen, prägten die Jahre von 1984-85.

Nach einer kurzen Ruhepause kam es zu einem weiteren Bombenattentat auf das Postamt der kleinen Gemeinde Burgstall, vor den Toren Merans. Autobomben vor Häusern italienischer Politiker, Sprengungen von Strommasten, Schüsse auf Polizeistationen, richteten zum Glück nur Sachschäden an, brachten jedoch die Stimmung im Lande zum Kochen. Der Alltag glich gefühlt einem Hexenkessel, die Atmosphäre jener wie im Krieg. Checkpoints auf den wichtigsten Zufahrtswegen, Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag und nervösem Zeigefinger. Es herrschte die blanke Angst auf beiden Seiten. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Panik, die in mir hochstieg, als ich von einem Polizeioffizier mit Waffe und zitternder Hand, zum Öffnen des Kofferraums gezwungen wurde. Die Last dieser Erlebnisse sitzt tief und wirkt bis heute noch nach.

Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Welle der Gewalt im Jahr 1988, als der Versuch der Sprengung einer Druckleitung glücklicherweise fehlschlug. Es handelte sich dabei um die Pipeline für die Wasserzufuhr zu einem Elektrizitätswerk, abermals in der Gemeinde Lana. Ein Gelingen hätte fatale Folgen mit sich gebracht. Der Anschlag fand just an jenem Tag statt, an dem der Leichnam des ehemaligen sogenannten Südtiroler Freiheitskämpfers, Jörg Pichler, beigesetzt wurde. Der Friedhof wäre von einer Flut, welche der Leitungsbruch mit sich gebracht hätte, vermutlich unmittelbar betroffen gewesen. Pichler, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren selbst aktiv im Kampf gegen die italienischen Besatzer involviert war, war mir gut bekannt. Des Öfteren bin ich zu Gast in seinem Hause gewesen. Die Besuche waren geprägt vom Respekt gegenüber diesem großgewachsenen, schlaksigen Mann, der kein Freund vieler Worte und stets mürrisch und abweisend war. Wer damals den Anschlag auf die Wasserleitung ausgeführt hat, ist bis heute fraglich. Die meisten Opfer hätte es wohl unter den Besuchern von Pichlers Beerdigung gehabt, weshalb Gerüchte die Runde machten, der italienische Geheimdienst könnte die Finger mit im Spiel gehabt haben. Eine sogenannte False-Flag-Operation wird vermutet. Es gab nach diesem Ereignis noch weitere Anschläge, etwa im Vinschgau und dem Eisacktal. Die Abstände wurden jedoch immer länger, zogen sich aber bis tief ins neue Millennium hinein.

Es gibt noch einen weiteren Vorfall, der mir bis heute zu schaffen macht. Er ereignete sich im Jahre 1996. Dabei handelt es sich nicht direkt um einen Terrorakt, geplant und ausgeführt von Gruppierungen mit eindeutig separatistischen Bestrebungen, sondern um die Taten eines Rechtsextremen. Das Motiv war eindeutig, Hass auf Italiener. Sein Amoklauf, der sich über Wochen hinzog, versetzte die Stadt Meran und Umgebung, in Angst und Schrecken. Die Opfer, italienischsprachige Mitbürger oder in einem Fall, der Lebensgefährte einer Italienerin. Der Amokschütze schlug an diversen Orten und stets nach 19:00 Uhr zu. Wir lebten für drei Wochen in einer Art Schockstarre, bis es der Polizei schlussendlich gelang, den Schützen ausfindig zu machen. Als man ihn jedoch dingfest machen wollte, kam es zu einer weiteren Tragödie.

Der mutmaßliche Täter hatte sich in einem Schuppen in der Nähe von Meran verschanzt. Die Polizei war eben im Begriffe das Gebäude zu stürmen, als der Amokschütze das Feuer eröffnete. Ein Projektil traf einen Polizeihauptmann tödlich. Am Ende dieses Dramas waren sieben Menschen tot, darunter der Killer, welcher sich mit einer Kugel in den Kopf selbst richtete.

Warum mich dieses Ereignis selbst so stark betroffen hat liegt daran, dass es sich bei dem getöteten Polizisten um einen guten Bekannten meiner Familie handelt. Warum ausgerechnet er in die Schusslinie geraten, ja überhaupt dort im Einsatz war, kann ich nicht sagen. Er war in einer Polizeiwache stationiert, die sich ca. vierzig Kilometer entfernt vom Geschehen befand. Außerdem war das Polizeiaufgebot vor Ort fast hundert Mann stark. Ich erinnere mich noch heute an den Ort, an welchem ich mich befand, als die Meldung über das Radio reingekommen war. Ich glaubte mich verhört zu haben, war fassungslos. Wie viele Male war ich als Kind im Haus dieses Mannes gewesen? Zwischen seinen Kindern und mir bestand eine enge Freundschaft. Damals, als mein Bruder zur Welt gekommen war, wir noch kein eigenes Fahrzeug besaßen, war er es, der meine Mutter vom Berg runter in die Stadt ins Krankenhaus gebracht hatte. Obwohl der Tag, an dem dieser Polizist ermordet wurde, schon so lange her ist, erfüllt mich der Gedanke daran bis heute, mit tiefer Trauer.

Warum habe ich das aufgeschrieben? Plötzlich ist mir bewusst geworden, dass ich in meiner Kindheit und Jugend, in einem Spannungsfeld von Unsicherheit und Gewalt aufgewachsen war. Ich hatte das bis heute nie so gesehen. Nun frage ich mich, ob dies Spuren hinterlassen hat. Vielleicht ist es mit Schuld daran, dass ich sehr sensibel auf Hass gegen andere Menschen, Minderheiten, Randgruppen usw. reagiere? Wahrscheinlich bin ich deshalb strikt gegen Krieg und Gewalt, weil ich selbst die Angst verspürt habe, welche Waffengewalt auslöst. Ich kenne den Schmerz, der einen lähmt, wenn ein lieber Mensch vollkommen sinnlos von einer Kugel niedergestreckt wird und weiß um die Trauer der Hinterbliebenen. Ich kenne die Schäden und das Misstrauen zu gut, welches Nationalismus, Faschismus und Patriotismus auslösen. Weshalb wir alles dagegensetzten müssen, damit sich dieser Hass nicht hochschaukelt und sich Szenen wie diese, möglichst nie mehr wiederholen. Wer ähnliches erlebt hat, weiß wovon ich spreche.

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