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Warum wieder die Juden?

Ich bin in einem sehr christlichen Umfeld aufgewachsen und habe mich in meiner Kindheit und Jugend intensiv mit dem christlichen Glauben und der Bibel auseinandergesetzt. Außerdem wurde ich paradoxerweise durch meinen Großvater, der für die Nazis in Russland gekämpft und sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, sensibilisiert, was die Ermordung der Juden im Dritten Reich betrifft. Er war es auch, der uns als Kinder mit ins Konzentrationslager Dachau nahm, wo wir mit den Gräueltaten der Nazis konfrontiert wurden. Im Laufe meines Lebens bin ich wieder und wieder dorthin zurückgekehrt und habe mit zunehmender Reife das Ausmaß des Geschehenen immer mehr begriffen. Vom christlichen Glauben habe ich mich schon lange abgewandt. Ich möchte lieber wissen als glauben. Neben meinem Großvater hatte ich noch einen Onkel, der mehrere Jahre in Israel in einem Kibuz gelebt hat. Ich muss zugeben, dass mich seine Erzählungen und natürlich die Geschichte der Juden, die ich durch meine christliche Prägung kennengelernt hatte, immer beeindruckt haben.
 

Das positive Bild, das ich mir von Israel gemacht hatte, erhielt jedoch einen Dämpfer, als ich aus unseren Medien erfuhr, wie rigide die Sicherheitskräfte dort gegen Araber vorgingen und welchen Repressalien sie ausgesetzt waren. Das war um die Jahrtausendwende, in einer Zeit, in der sich auch das Narrativ einer USA zu etablieren begann, deren rücksichtslose, imperialistische und hegemoniale Politik immer mehr Krisenherde in der Welt schuf. Israel, der Schützling der USA, wurde dadurch auch in meiner Welt stigmatisiert.
 

Eines Tages traf ich eine israelische Familie, und mit der Selbstsicherheit, die mir mein Gefühl gab, auf der "richtigen" Seite zu stehen, kritisierte ich selbstbewusst das israelische Verhalten gegenüber den Arabern. Die Antwort der israelischen Mutter jedoch, löste etwas in mir aus. Wütend und mit Tränen in den Augen fragte sie mich, wie ich mich verhalten würde, wenn es mein eigenes Kind wäre, das sich morgens auf den Weg zur Schule macht und von dem man nie weiß, ob es abends wieder zurückkommt. Diese starken Emotionen haben mich tief berührt. Ich war sprachlos. Ich habe mich danach immer mit Kritik an Israel zurückgehalten, weil mir durch diese Erfahrung bewusst wurde, dass ich schlicht zu wenig wusste über das, was man gemeinhin den Nahostkonflikt nennt, und, dass ich mir einfach den Luxus leistete, dazu keine Meinung zu haben.
 

Am 7. Oktober 2023 änderte sich das schlagartig. An diesem Tag beschloss ich, dass es an der Zeit sei, mich endlich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. So habe ich mich sofort auf Spurensuche begeben und mich mit der Geschichte hinter dem Konflikt auseinandergesetzt. Ich persönlich sehe nur so die Möglichkeit, mir ein Bild von der Situation zu machen, mit allen Hintergründen und möglichst unbeeinflusst von Propaganda. Gleichzeitig sehe ich, wie sich viele Zeitgenossen ihre Meinung anhand von Bildern, Videos oder Posts auf Social-Media-Plattformen bilden. Ich bin mir bewusst, dass solche emotionsgeladenen, manchmal brutalen Inhalte etwas mit ihren Konsumenten machen. Eine Mehrheit glaubt, dass ungefilterte Inhalte, wie eben Bilder, Videos und Texte von Menschen vor Ort, das wahre Bild, die Realität vermitteln. Was sie nicht verstehen, ist, dass es sich dabei um Fragmente eines großen Ganzen handelt, die sie selbst mangels Hintergrundwissen nie richtig einordnen können. Auch weil es sich um Bruchstücke handelt, die, aus dem Zusammenhang gerissen, vielfältig interpretiert werden können. Viele Inhalte dieser Informationsflut können von Laien nicht oder nur unzureichend eingeordnet werden. Vielmehr beeinflussen sie deren Urteilsvermögen massiv, was in der Folge zu falschen Schlussfolgerungen und einem verzerrten Bild der Situation führt.
 

Je länger der Konflikt andauert und je mehr unschuldige Menschen ihr Leben verlieren, desto schwerer fällt es vielen, einen differenzierten Blick auf das Geschehen zu werfen. So kommt es, dass in scheinbar seriösen Medien Sätze fallen wie "die Hamas, die von mehreren Ländern als Terrororganisation eingestuft wird" (Deutsche Welle am 22.12.2023, "Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland nimmt zu"). Es folgen Berichte über das Leid der Menschen im Westjordanland oder im Gazastreifen, ohne auf die Ursachen einzugehen. Blind wird der Propaganda islamistischer Quellen nachgebetet, deren nachweisliches und immer wieder wiederholtes Ziel die "Vernichtung" Israels und seiner Bürger ist. Auch hier fehlt eine differenzierte Weltsicht. Kritik am islamistischen Antisemitismus bedeutet nicht, gegen den muslimischen Glauben oder gar islamophob zu sein.
 

Wie schnell die Solidarität mit dem Schicksal Israels, das untrennbar mit jenem der Juden verbunden ist, schwindet, zeigt sich mit jedem Tag, an dem die israelische Armee gegen Terrorzellen im unmittelbaren Ausland vorgeht. Wenn auf der einen Seite in Ländern wie Deutschland von einem "importierten Antisemitismus" gesprochen und dieser angeprangert wird, so wird dabei völlig übersehen, dass es sich bei der mangelnden Unterstützung Israels ebenfalls um Antisemitismus handelt. Wer das anders sieht, kennt die Geschichte, die jahrtausendelange Verfolgung und Ermordung des jüdischen Volkes nicht oder leugnet sie und ist sich der wahren Hintergründe der Gründung eines jüdischen Staates nicht bewusst. Das Schweigen und, schlimmer noch, die Kritik am Vorgehen Israels lässt unterschwellig immer etwas von dem Ressentiment anklingen, das viele in sich zu tragen scheinen, das sie aber aus irgendwelchen Gründen immer unterdrückt haben. Wer weiß, vielleicht steckt ja doch ein Fünkchen Wahrheit in den seit Jahrtausenden kolportierten Erzählungen über die "jüdische Rasse"? Es ist kein Zufall!
 

Die Geschichte des Staates Israel ist eigentlich ein einziges Absurdum. Entstanden als Entschuldigung der westlichen Staatengemeinschaft für die im Laufe der Geschichte von den verschiedensten Kräften am jüdischen Volk begangenen Verbrechen, die in der Shoah ihren traurigen Höhepunkt fanden, wurde sein Existenzrecht von Anfang an von vielen vehement bestritten und bekämpft. Am Tag nach der Staatsgründung wurde Israel von seinen Nachbarn militärisch angegriffen mit dem Ziel, den neuen Staat und seine Bewohner endgültig auszulöschen. Dieser Angriff und weitere, die im Laufe der Jahre folgen, werden zurückgeschlagen. Neben diesen militärischen Angriffen kommt es zu heimtückischen Terrorakten, bei denen im Laufe der Jahrzehnte unzählige Militärs, vor allem aber eine große Zahl unschuldiger Zivilisten, Frauen, Alte und Kinder getötet oder verletzt und verstümmelt werden. Die Art des Terrors ist sehr perfide, denn die Taktik der Terroristen macht es den Sicherheitskräften immens schwer, ihn im Vorfeld zu unterbinden. 

Neben dem Terror wird das Land seit Jahrzehnten aus den Nachbarstaaten immer wieder mit Raketen beschossen. Der Raketenbeschuss ist Teil der Lebensrealität der Menschen dort geworden, sie haben gelernt, damit umzugehen, sich zu schützen. Jedes andere Land der Welt würde sich sofort im Kriegszustand befinden, wenn es von seinen Nachbarn angegriffen würde, seine Bürger wären ständig einem solchen Sicherheitsrisiko ausgesetzt. Die ständigen militärischen Angriffe, der permanente Terror bleiben nicht ohne Folgen. Das angegriffene Land befindet sich in einem dauerhaften Selbstverteidigungsmodus, der sich nicht nur auf die eigenen Bürger auswirkt, sondern auch auf die Menschen, die in den Gebieten leben, von denen Krieg und Terror ausgehen. Menschen, die vielleicht nur in Frieden leben wollen, denen Ideologien, Religionen und Politik egal sind. Wobei man davon ausgehen kann, dass es sich um Minderheiten handelt. Ein großer Teil steht hinter der Idee, dass ein Volk, dem man aus ihrer Sicht zu Unrecht einen eigenen Staat zugestanden hat, ausgelöscht werden soll.
 

Der Staat Israel, der als sicherer Hafen für alle Juden gedacht ist, die dort Schutz suchen wollen (müssen), darf in seinem Bemühen, diese Schutzfunktion zu erfüllen, nicht in Frage gestellt werden. Wer dies tut, stellt sich gegen alle Juden und muss damit leben, als Antisemit bezeichnet zu werden. Dies schließt jedoch niemals eine Kritik an einer israelischen Regierung oder einzelnen Regierungsmitgliedern und deren Politik ein. Jede Regierung dieser Welt darf und muss hinterfragt und gegebenenfalls kritisiert werden. Wer aber meint, wir hätten den Nahostkonflikt einzelnen Fehlern der israelischen Politik der letzten Jahrzehnte oder gar der aktuellen Regierung zu verdanken, dessen Horizont reicht bestenfalls bis zur eigenen Nasenspitze. So hat die derzeitige rechtsradikale israelische Regierung den aktuellen Konflikt allenfalls angeheizt, ebenso wie die von ihr geförderten Siedleraktivitäten. Dabei hat es in Israel im Laufe der Jahrzehnte auch linke Regierungen gegeben, solche, die sich gegen die Siedleraktivitäten gewandt und diese sogar unterbunden haben. Ohne dass dies jemals einen Einfluss auf die kriegerischen Aktivitäten der umliegenden arabischen Staaten und Terrornetzwerke gehabt hätte. Mit anderen Worten: Egal, wie Israel sich strategisch verhalten hat, es wurde nie wirklich von allen seinen Nachbarn als souveräner Staat anerkannt. Die Ziele der Hamas und anderer Terrororganisationen sind seit Jahrzehnten klar und haben sich kein bisschen verändert. Es geht nach wie vor um die Vernichtung des Staates Israel und seiner Bürger.


Das Vorgehen der israelischen Armee im Krieg gegen die umliegenden Terrornetzwerke muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Den Menschen, die heute dem israelischen Kampf gegen die Hamas und andere Terrorgruppen zum Opfer fallen, stehen Millionen von Juden gegenüber, die im Laufe der Geschichte ermordet wurden. Dies nur für diejenigen, denen die Geschichte egal zu sein scheint, die nur auf das Jetzt und Heute schauen. Aus dem "Nie wieder" ist mit dem 7. Oktober 2023 und den Hamas-Befürwortern im Westen, ein "Immer wieder" geworden. Eine Zustimmung vieler Menschen im Westen, die nicht in der Lage zu sein scheinen, ihren Horizont entsprechend zu weiten. Die empört von sich weisen, Antisemiten zu sein. Wer aber den Jüdinnen und Juden das Recht abspricht, nach Jahrtausenden der Verfolgung in Sicherheit zu leben, für diese Sicherheit zu kämpfen, sie zu verteidigen, der stimmt ihrer Vernichtung zu und darf getrost als Antisemit bezeichnet werden. 


Viele Jahrzehnte der Verhandlungen haben zwar zu einer gewissen Entspannung zwischen dem Staat Israel und vielen Ländern der arabischen Welt geführt. Unterschwellig waren sie jedoch immer von radikal-islamistischen Tendenzen dominiert. Warum dies von vielen Menschen in der westlichen Welt ignoriert wird, warum die Propaganda gerade derer, die eigentlich ihr Feindbild darstellen sollten, schwerer wiegt als das Leid eines seit Jahrtausenden geknechteten Volkes mit Millionen von Opfern und dessen finalem Kampf um endgültige Sicherheit, erschließt sich mir nicht.
 

Wer sich wirklich eine Meinung zum Thema Nahostkonflikt machen will dem empfehle ich, sich mit der Geschichte dieses denkwürdigen Landstreifens auseinanderzusetzen. Ein Geschichtsbuch trägt mehr zur Meinungsbildung bei, als tausende Augenzeugenberichte und Fotos oder Videos des Grauens. Letztere können in ihrer Aussagekraft subjektiver nicht sein. Besser noch als ein Geschichtsbuch, sind mehrere Geschichtsbücher. Der Vergleich macht sicher und vor allem, wird man sich jener Stellen bewusst, die eventuell beim einen oder anderen Autor übersehen oder anders gewichtet und interpretiert wurden. So erlangt man das Bild einer Situation, aus einer sehr weiten Perspektive. Dies erlaubt einem, Aussagen, Berichte und eben Fotos oder Videos besser zu interpretieren und einzuordnen. Der Schutz von Menschenleben, vor allem wenn es um Kinder, Frauen oder andere schwache Mitglieder von Gesellschaften geht, ist ein Reflex. Er zeigt, dass Menschen empathisch reagieren, was an und für sich einen sehr positiven Akt der Mitmenschlichkeit darstellt. Es wäre wünschenswert, dass diese Empathie auch jenen unschuldigen Opfern von islamistischem Terror in Israel gelten würde. 

Die Medien werden aktuell von Talkshows, Diskussionen und Meinungsbeiträgen zur Verhältnismäßigkeit des Vorgehens des israelischen Militärs in Gaza geflutet. In den sog. sozialen Netzwerken, wird Israel mit Kritik und Hass überzogen. Wo aber waren die Meinungsmacher, als Unschuldige in Haifa durch Bombenterror von Selbstmordattentätern ermordet wurden, oder Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel geschossen wurden (und immer noch werden)?

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