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Leonie

In Wien wird ein 13-jähriges Mädchen leblos aufgefunden. Der tote Körper an einen Baum gelehnt, weist Spuren von physischer und sexueller Gewalt auf. Nur wenige Tage später werden mehrere Jugendliche afghanischer Herkunft, als mögliche Täter verhaftet. Ein Ereignis, das immense Trauer auslöst, ob des sinnlos ausgelöschten jungen Lebens aber auch Wut und Fassungslosigkeit. Was macht menschliche Wesen zu solchen Monstern? Welches Maß an Kaltblütigkeit braucht es, um ein Kind auf solch bestialische Weise zu quälen, zu misshandeln und schlussendlich zu töten? Für einen normalen Menschen wohl nie nachvollziehbar.

Bevor jedoch der Körper des toten Mädchens erkalten konnte, wurde dieses Opfer brutalster Gewalt an die Öffentlichkeit gezerrt, um ein weiteres Mal auf verschiedenste Weise missbraucht zu werden. Da sind einmal Politiker, die kaltblütig Kapital aus dem Ereignis schlagen, Emotionen schürend, mit nationalistischen Agenden ihre Macht zu festigen suchen. Da sind die Xenophoben und Rassisten, die sich an diesem Verbrechen laben und sich in ihrer Menschenfeindlichkeit bestätigt sehen. Und dann sind da noch jene, denen die Fähigkeit zu differenzierter Betrachtung zu fehlen scheint.

Man kann sich natürlich auch die Frage stellen, wie es dazu kommen kann, dass ein Kind, scheinbar ohne Wissen der Eltern, aus Niederösterreich nach Wien fahren konnte. Es war dem Anschein nach nicht als angängig gemeldet worden und was man aus Interviews mit der Mutter des Mädchens rückschliessen kann, war es öfter der Fall, dass dieses nicht nachhause gekommen war. Jedoch sind prekäre familiäre Verhältnisse genauso keine Rechtfertigung für das, was passiert ist, wie eine eventuelle Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern. Es ist im jetzigen Moment auch sicherlich nicht der richtige Ansatz, im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr, solche Aspekte in den Vordergrund zu stellen.

Der Volkszorn entlädt sich nun auf die potenziellen Täter. Obwohl man immer von Unschuldsvermutung spricht, vor allem wenn es um offensichtlich korrupte Politiker/innen geht, wird in diesem Falle, schonungslos vorverurteilt. Stimmen werden laut, die nach der Todesstrafe rufen und das, was wir uns an zivilisatorischen Werten glauben angeeignet zu haben, dient plötzlich nicht mehr als Maßstab für unser Denken und Handeln. Was die Menschen lenkt, sind pure Emotionen, wie Hass oder eben dieses undifferenzierte Denken. Sollte es sich bei den afghanischen Jugendlichen wirklich um die Täter handeln, was hätte sie an der Ausführung eines solchen Verbrechens verhindern können? Dass das kategorische Abschieben von afghanischen Jungmännern keine Lösung darstellen kann, muss doch klar sein? Denn wenn keine Afghanen mehr in Mitteleuropa aufgenommen würden, morden morgen Somalier, Dänen, Italiener oder eben Bierwirte.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Kulturen gibt, in denen dem Leben von Frauen oder Leben generell, nicht derselbe Stellenwert zugewiesen wird, wie in der westlichen Hemisphäre. Knaben und Jugendliche werden anders sozialisiert, wie wir das kennen, was sicher nicht unproblematisch ist. Dass in solchen Fällen eine Anpassung an unsere Gepflogenheiten Voraussetzung für ein Bleiberecht ist, darüber sollte man nicht diskutieren müssen. Trotzdem ist es äußerst naiv zu erwarten, dass Integration einfach so passiert, sobald man einem Menschen ein Dach über den Kopf gegeben und ihn aus der Gefahrenzone um Leib und Leben gebracht hat. Jedoch gerade das wird ständig erwartet. Migranten, die zu uns gekommen sind, um Krieg und Gewalt zu entkommen, sind bei uns in Sicherheit und entsprechend unauffällig haben sie sich gefälligst zu verhalten.

Der/die Geflüchtete, der/die Migrant/in, sie sind Menschen wie wir auch. Sie alle haben nicht nur das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Diese sind das, was wir für uns als Grundbedürfnisse definieren. Es handelt sich dabei um Eckpfeiler, welche wir als grundsätzliche Voraussetzungen sehen, auf ihnen fußt unser Alltag, unser ganzes Dasein. Darüber hinaus jedoch brauchen wir sinnstiftende Aspekte in unserem Leben, Perspektiven, Faktoren, welche uns mit Glück und Freude erfüllen. Dazu gehören etwa Familie, ein soziales Umfeld, ein gesichertes Einkommen, verdient durch den eigenen Einsatz. Ein Mensch, den wir bei uns aufnehmen, der aus einem fernen Land kommt, dem bleibt all das in der Regel verwehrt. Wie soll Assimilation stattfinden, wenn Grundlegendes schlicht nicht ermöglicht wird?

Viele die zu uns kommen, haben ein Leben voller Gewalt und Schrecken hinter sich. Wenn wir uns dann noch mit den Ursachen befassen, welche zu diesen Umständen führten, müssen wir feststellen, dass da mehr an Zusammenhängen mit unserer eigenen Welt bestehen, als viele für möglich halten. Das Studium der Geschichte, vor allem der vergangenen paar hundert Jahre, fördert einiges zu Tage, was den Blickwinkel auf so manches ändert, wenn es um die Beurteilung von Fluchtursachen geht. Es würde den Rahmen dieser kurzen Abhandlung bei weitem sprengen, diesbezüglich ins Detail zu gehen. Wenn man sich jedoch nur kurz die Geschichte Afghanistans der letzten Jahrzehnte vor Augen führt, erkennt man, dass Großmächte aus einer einst blühenden Wirtschaft und offenen Kultur, eine Hölle auf Erden geschaffen haben. Was bleibt den Menschen dort, die schlicht Opfer einer Politik geworden sind, die wir gewählt haben, als sich in Sicherheit zu bringen?

So grausam und unmenschlich nun diese potenziellen Täter im Falle von Leonie vorgegangen sind, man kann nicht sämtliche afghanischen Staatsangehörige in Sippenhaft nehmen. Man kann auch nicht die Probleme, die wir uns mit unserer kurzsichtigen Außenpolitik selbst erzeugt haben lösen, indem wir striktere Abschiebe- und/oder Einwanderungsgesetze beschließen und umsetzen. Vor allem können wir nicht andere für die Taten von Menschen bestrafen, die zufällig demselben Staat entstammen. Wir müssen differenzieren und wir müssen beginnen, die Bedingungen in anderen Ländern, den unseren anzupassen, zumindest auf ein gewisses Maß. Solange wir jedoch immer noch unterscheiden zwischen Ländern, die wir ausbeuten und klein halten können, wo wir Konflikte, wenn nicht gar initiieren dann doch unterstützen und schüren, wird es immer zu Fluchtbewegungen kommen, die uns dann direkt betreffen werden. Wir müssen aufhören Politikern zur Macht zu verhelfen, die von Grenzschutz schwafeln, jedoch nichts dagegen tun, dass ein solcher Schutz nicht mehr notwendig sein würde. Wir müssen einer Politik den Vorzug geben, welche die Wunden zu kitten in der Lage ist, welche etwa die Kolonisation in vielen Ländern gerissen hat. Wir müssen Volksvertreter ans Ruder lassen, die den Ernst des Klimawandels, mit all seinen globalen Folgen, erkannt haben und dagegen vorgehen. All das würde verhindern, dass Menschen zur Flucht gezwungen würden. Somit müssten wir uns nicht mit komplexen Integrationsmaßnahmen konfrontiert sehen, welche traumatisierten Menschen eine Eingliederung in unsere Welt ermöglichen sollten.

Die Probleme, denen wir gegenüberstehen, sie sind kompliziert und über viele Jahrhunderte gewachsen. Wir werden sie nicht mit populistischen und nationalistischen Ansätzen lösen. Derartige Lösungsansätze würden auch nicht verhindern, dass morgen wieder ein Mädchen, geschändet und umgebracht, an irgendeinem Baum lehnen wird. Heute ist der Täter vielleicht ein Afghane, morgen wieder ein Bierwirt. Dies werden weder verschärfte Asylgesetze verhindern, noch die Einführung härterer Sanktionen gegen Täter oder gar der Todesstrafe. Menschen, Frauen werden weiter Opfer von Gewaltverbrechen werden. Nicht, dass wir uns damit abfinden sollen, ein Stück weit jedoch scheint Gewalt und deren Folgen, Teil unserer DNA zu sein.

Was die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen betrifft, müssen wir endlich lernen, ganzheitliche Ansätze zu wählen. Wir müssen Geflüchtete, Asylsuchende, Migranten mit denselben Maßstäben messen, wie wir es mit unsereinem tun. Was nicht bedeutet, dass von deren Seite kein Beitrag zu leisten ist. Der Wille zur Integration ist Voraussetzung. Gleichzeitig jedoch müssen auch jene Parameter entsprechend gesetzt sein, die diesen Menschen das ermöglicht, was wir als würdevolles und sinnerfülltes Leben bezeichnen würden. In der Realität wird vieles vernachlässigt, was staatliche Leistungen zum Thema Integration betrifft. Es wird zu wenig getan, oft das Falsche. Die Ursachen der Folgen dieses Staatsversagens werden dann als ein Scheitern von Integration, bei den Betroffenen gesucht. Ein gutes Beispiel dafür, ist der Umgang mit zumeist türkischen Gastarbeitern in Deutschland, hauptsächlich in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts und unmittelbar danach. Damals hat man eine Integration nicht einmal im Ansatz versucht, die dadurch entstandenen Probleme jedoch, vergisst man bis heute nie, zu verurteilen. Eine falsche, heuchlerische Welt, die auf konstruierter Ungleichheit aufbaut. Lassen wir nicht zu, dass dies so weitergeht.

 

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